Obernkirchen (Niedersachsen)

Grafschaft Schaumburg – Wikipedia Datei:Obernkirchen in SHG.svg  Die Kleinstadt Obernkirchen - wenige Kilometer südwestlich von Stadthagen gelegen - stand im Laufe ihrer Geschichte unter häufig wechselnden Herrschaften bzw. Verwaltungen; sie besaß seit 1615 Stadtrechte und war bis 1932 hessisch. Heute gehört Obernkirchen mit derzeit ca. 9.500 Einwohnern zum Landkreis Schaumburg in Niedersachsen (hist. Karte von Schaumburg um 1865 ohne Eintrag von Obernkirchen, aus: wikipedia.org  und  Kartenskizze 'Landkreis Schaumburg', Hagar 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

Overenkerken anno 1489

Ansicht von Obernkirchen im Jahre 1489 (Abb. aus: obernkirchen-info.de/bergstadt/geschichte)

 

Seit der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts haben sich nachweislich Juden in der „Bergstadt“ Obernkirchen aufgehalten; ihnen wurde von dem Schaumburger Grafen Otto IV. die „Niederlassung in der Stadt Obernkirchen gnädig verwilligt.” In den nächsten beiden Jahrhunderten sollen hier stets drei bis vier jüdische Familien gelebt haben. Eine Synagogengemeinde gründete sich erst im Jahre 1823.

                                                             Siegel der Synagogengemeinde (aus: obernkirchen-info.de)

Die Familien verdienten im 19.Jahrhundert ihren recht bescheidenen Lebenserwerb als Metzger, Klein- und Kolonialwarenhändler. Erst Ende des 19.Jahrhunderts verbesserte sich ihre wirtschaftliche Situation spürbar.

Der Betraum der Gemeinde war zunächst in einem Bürgerhaus untergebracht; seit 1847 verfügte die Gemeinde über eine neue Synagoge in der Strullstraße/Ecke Bornemannstraße.

 Synagoge in der Strullstraße, 3.Gebäude von links (Berg- u. Stadtmuseum O.)

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts gab es im Ort eine jüdische Privatschule, die sich 1842 zu einer Elementarschule wandelte, die von nun an etwa 25 Kinder besuchten; darunter waren auch Kinder aus umliegenden Dörfern. In den letzten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens war die jüdische Schule in Obernkirchen die einzige auf dem Gebiet des Kreises Grafschaft Schaumburg; Mitte der 1920er Jahre wurde sie geschlossen.

Im Uhlenbruchtal legte die Gemeinde um 1750 ihre Begräbnisstätte an; es ist der älteste jüdische Friedhof in Schaumburg.

  Grabstätten (Aufn. aus: "Schaumburger Nachrichten", 2006)

Der dem Landrabbinat Kassel unterstellten Synagogengemeinde Obernkirchen waren die Orte Beeke, Gelldorf, Nienstädt, Rösehöfe, Sülbeck und Vehlen angegliedert.

Juden in Obernkirchen:

    --- um 1605 ........................  2 jüdische Familien,*    * andere Angabe: 7 Familien

    --- um 1750 ........................  3     “       “    ,

    --- 1823 ........................... 80 Juden (in 23 Familien),*  * Gemeinde

    --- 1847 ........................... 75   “  ,

    --- 1861 ........................... 91   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1885 ........................... 84   “  ,

    --- 1905 ........................... 74   “   (ca. 2% d. Bevölk.),

    --- 1911 ........................... 17 jüdische Familien,

    --- 1925 ........................... 57 Juden,

    --- 1933 ....................... ca. 40   “  ,

    --- 1939 ........................... 23   “  ,

    --- 1940 ........................... 10   “  ,

    --- 1944 ...........................  5   “  .

Angaben aus: K.H. Schneider (Bearb.), Obernkirchen, in: H. Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen ..., Bd. 2, S. 1156

       Kaufhaus Stern Geschäftsanzeigen (aus: obernkirchen-info.de)           

Zu Beginn der 1930er Jahre waren die in Obernkirchen lebenden jüdischen Familien der antisemitischen Politik des NS-Staates ausgesetzt. Am 1.4.1933 kam es auch hier zu einem Boykott der beiden jüdischen Geschäfte Adler und Lion.

    

Anzeige der NSDAP-Ortsgruppe Obernkirchen zur Reichstagswahl im Juli 1932 und Boykott-Warnung (Juni 1933)

Die Obernkirchener Juden emigrierten nun vermehrt - zumeist nach Übersee. In der Folge löste sich die Gemeinde allmählich auf. Zum Zeitpunkt des Novemberpogroms von 1938, in dessen Verlauf hier jüdisches Eigentum zerstört wurde, lebten in der Kleinstadt noch etwa 30 Juden. Innerhalb nur eines Jahres ging die Anzahl der Juden durch Auswanderung auf zehn Personen zurück. Die letzten Juden Obernkirchens wurden im äußerlich unbeschädigt gebliebenen und beschlagnahmten Synagogengebäude zusammengelegt. Danach diente das Gebäude als Unterkunft für polnische und russische Zwangsarbeiter/innen. Die wenigen noch verbliebenen Juden Obernkirchens wurden 1942/1943 deportiert und fanden - bis auf eine einzige junge Jüdin - in Ghettos/Lagern im besetzten Osteuropa den Tod.

 

Zwei Bronzeplatten am Standort der ehemaligen Synagoge - das Gebäude wurde um 1970 abgerissen - erinnern seit 1988 an die frühere jüdische Gemeinde von Obernkirchen .

An dieser Stelle stand die Synagoge der früheren jüdischen Gemeinde Obernkirchen.

In mahnendem Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger, die der Verfolgung der Gewaltherrschaft zum Opfer fielen.

Eine sich in Obernkirchen gebildete Initiative hat im Jahre 2015 mit der Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ begonnen; insgesamt wurden im Stadtgebiet von Obernkirchen bislang mehr als 50 Steine (Stand 2021) für Angehörige jüdischer Familien ins Gehwegpflaster eingelassen.

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"Stolpersteine" am Kirchplatz zum Angedenken an Mitglieder der Familie Lion (Aufn. aus: stolpersteine-obernkirchen.de)

                                         Stolperstein Obernkirchen Vehlener Straße 61 Mathilde MeyersbergStolperstein Obernkirchen Vehlener Straße 61 Joseph Meyersberg verlegt am Sülbecker Weg (Aufn. T., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Jüdischer Friedhof Obernkirchen Tor.jpg 

 Jüdischer Friedhof Obernkirchen (Aufn. A. Hindemith, 2013, in: commons.wikimedia.org, CC BY 3.0)

Einziges Relikt der ehemaligen jüdischen Gemeinde ist heute das ca. 1.600 m² große Friedhofsgelände „Auf der alten Bückeburg”, das in jüngster Vergangenheit mehrfach geschändet wurde. Dessen mehr als 100 noch vorhandene Grabstätten wurden im Jahre 2006 restauriert. 

 

 

 

Weitere Informationen:

Rolf Krumsiek, Obernkirchen. Chronik einer alten Stadt, Obernkirchen 1981

Albert-Schweitzer-Schule Obernkirchen (Hrg.), Juden in Obernkirchen. Wo sind sie geblieben?, Obernkirchen 1989

Bernd Wilhelm Linnemeier, Jüdisches Leben im alten Reich. Stadt und Fürstentum Minden in der frühen Neuzeit, Bielefeld 2002

Beeindruckendes Beispiel der Begräbniskultur, in: "Schaumburger Zeitung" vom 6.4.2005

Karl Heinz Schneider (Bearb.), Obernkirchen, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 1156 - 1162

Rolf-Bernd de Groot (Bearb.), Datensammlung: 400 Jahre jüdisches Leben in Obernkirchen (Manuskript)

Rolf-Bernd de Groot/Günter Schlusche, Jüdisches Leben in der Provinz. Schicksale jüdischer Familien in Schaumburg seit 1560 - erzählt und dokumentiert, in: Kulturlandschaft Schaumburg, Band 17, Verlag Ellert & Richter, Hamburg 2008

Rolf-Bernd de Groot (Red.), Kaufleute enteignet – Familien terrorisiert, in: "Schaumburger Nachrichten" vom 3.1.2009

Rolf-Bernd de Groot (Red.), Gräber sind „Haus des Lebens“, in: „Schaumburger Nachrichten“ vom 28.2.2009

Jüdische Geschichte in Obernkirchen, online abrufbar unter: obernkirchen-info.de (mit diversen Dokumenten zur Ortshistorie)

19 Stolpersteine sollen in Obernkirchen verlegt werden, in: „Schaumburger Nachrichten“ vom 13.4.2015

Stolpersteine in Obernkirchen (2015), online abrufbar unter: stolpersteine-obernkirchen.de

Auflistung der in Obernkirchen verlegten Stolpetrsteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Obernkirchen

Wilfried Bartels (Red.), Abschied von einem Stück Geschichte, in: „Schaumburger Nachrichten“ vom 13.1.2016

N.N. (Red.), Obernkirchen. Gedenken an den Holocaust: Weitere 18 „Stolpersteine“ verlegt, in: „Schaumburger Zeitung“ vom 4.10.2016

N.N. (Red.), Obernkirchen. Wenn der Mob tobt, in: „Schaumburger Nachrichten“ vom 6.6.2017 (betr. Stolperstein-Verlegung)

N.N. (Red.), Über 500 Jahre gab es in Obernkirchen jüdisches Leben, in: „Schaumburger Zeitung“ vom 27.10.2022